Das Ding mit der Angst
„Beherzt ist nicht wer keine Angst kennt. Beherzt ist, wer die Angst kennt und sie überwindet.“
(Khalil Gibran)
Manche Situationen wiederholen sich. Manche Gefühle auch. Angst ist ein solches Gefühl. Es ist ein gern gesehener Gast. Obwohl wir Angst nicht mögen, laden wir Angst häufig ein. Lassen dieses Gefühl einen dauerhaften Platz in unserem Inneren finden. Dort darf es still nisten, wachsen und andere Gefühle verschlingen. Angst ein gern gesehener Gast, der ungebeten kommt und viel zu lange bleibt.
Auch ich kenne Angst. Eher Ängste. Sie begegnen mir häufig und in vielfältigen Situationen Manche Ängste trage ich in mir. Schon lange. Sie begleiten mich seit meiner Kindheit. Manche Ängste sind neu. Kommen unverhofft. Das sorgt für Abwechslung.
Angst scheint zeitlos. Manche Ängste bleiben nur kurz. Andere besitzen scheinbar eine lebenslange Dauerkarte. Haben ihren festen Block, Reihe und Platz im Stadion unseres Lebens.
Angst hat viele Gesichter. Ist vielfältig. Kommt auf unterschiedlichen Wegen. Findet unser Inneres. Das macht sie mächtig und gefährlich. Selten sehen wir sie kommen. Meist ist sie schon da. Blinder Passagier.
In meinen Beratungen bekomme ich häufig Fragen von Menschen gestellt, die in ängstlichen Situationen sind. Einige haben Angst vor anstehenden Veränderungen. Halten an dem Vertrauten verzweifelt fest. Brauchen lebenslange Stabilität. Andere haben Angst, sich zu verabschieden. Etwas zu beenden, oder dessen Ende anzuerkennen. Es loszulassen. Neu anzufangen. Sehen nur das Problem. Nicht die Lösung. Manche bemühen sich darum, ihre Beziehung zu verbessern, doch sie erzielen keine wirkliche Veränderung. Ihr wiederholtes Scheitern stärkt ihre
Befürchtungen. Lässt sie erfolglos alte Muster nutzen. Wachsende Verzweiflung statt Erfolg. Ein weiteres Feld sind Krankheiten. Krankheiten, die nicht zu heilen scheinen. Die wir nicht kontrollieren können und deren Verlauf offen scheint. Unsicherheit ein wichtiger Partner von Angst.
All diese Fälle sind nur ein kleiner Teil von Angst. Persönliche Momentaufnahmen. Weder kausal noch linear erfassbar. Schwermut und Finsternis in hohen Dosen.
Es scheint nachvollziehbar, dass wir in solchen Situationen bestimmte Orte aufsuchen. Orte, an denen wir Ruhe finden. Orte, die uns vertraut sind. Kirchen oder Tempel können solche Orte sein. Dort können wir beten und zur Ruhe kommen.
Es kann auch helfen andere, um Rat zu fragen. Die eigene Angst mit jemandem zu teilen. Befürchtungen auszusprechen und real werden zu lassen. Professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Das macht sie greifbarer. Löst sie aber nicht.
Schnelle Lösungen gibt es nicht. Oder nur selten. Manchmal braucht es sie auch nicht. Hier liegt ein häufiger Fehler. Eine Suggestion. Nicht jede Angst benötig eine Lösung. Liebe ja auch nicht. Also warum sollen wir so denken? Wieso sollen wir unsere Ängste stets bekämpfen? Krieg führen und sie im besten Fall besiegen?
Das ist das Ding mit der Angst. So sollen wir denken. Aber Angst ist kein Gegner. Sie ist ein Teil von uns. Bekämpfen wir unsere Ängste, bekämpfen wir auch uns. Lösungen finden wir so keine. Stattdessen füttern wir die falschen Dinge mit unserer Energie. Verzweifeln. Sind Mittelpunkt in unserem eigenen Teufelskreis. Bauen feste Mauern ohne Türen. Halten die Angst am Leben.
Höre ich zu, höre ich meist ähnliche Geschichten. Angst ist etwas Schlechtes. Ist nicht erlaubt. Ängstlich zu sein ein Zeichen von Schwäche. Dabei kennen doch nur Indianer keine Furcht. Und selbst die haben manchmal Angst. Kinder wissen das. Kinder lassen ihre Ängste zu. Bitten um Hilfe. Meistern diese. Erwachsene verlernen das auf dem Weg des Erwachsenwerdens. Wollen falsche Flagge zeigen. Angstfrei Erwachsensein. Nennen das Mut. Dabei ist es ist noch keinen gelungen, seiner Angst zu entkommen. Naiv wie wir sind, nehmen wir an, angstfrei leben zu können. Klappt das nicht, wächst die Angst vor der Angst.
Doch was kann ich tun? Ich kann Angst nicht bekämpfen. Ich kann ihr nicht entkommen. Welche Möglichkeiten bleiben mir dann noch übrig?
Erneut gilt es das eigene Blickfeld zu erweitern. Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten Angst ist da. Sie ist unausweichlich. Sie wird mir begegnen. Stetig und stets aufs Neue. Das steht fest. Ist sie da, kann man sie bekämpfen. Sich wehren und gegen die Angst arbeiten. Das gibt einem das Gefühl etwas zu tun. Energie wird verbraucht. Bewegung entsteht. Gefühlte Kontrolle. Trügerisch. Denn kontrolliere ich wirklich? Oder kontrolliert die Angst mich? Wer ist die Marionette? Und wer der Marionettenspieler? Wie lasse ich etwas gehen, das ich so gerne intensiv bekämpfe?
Also warum kämpfen wir?
Das Ding mit der Angst. Ich kann ihr nicht entkommen. Ich kann sie nicht bekämpfen. Es braucht einen anderen Weg. Einen dritten Weg. Etwas Neues. Gegensätzliches.
Angst. Einmal anders. Ich kann sie begrüßen. Ihr begegnen. Sie anerkennen und wirken lassen. Sie spüren und kennenlernen. Das klingt verrückt. Zumindest scheint es für viele so zu wirken. Doch wagen wir es unser Herz zu öffnen, werden wir belohnt. Meine Erfahrungen zeigen dies. Menschen, die ihre Angst begrüßen und sie wie einen guten Gast behandeln, leben anders. Leben glücklich. Zufriedener.
Sie sind gute Gastgeber, die ihren Gästen ausreichend Zeit und Raum widmen. Sie kennenlernen. Kommunizieren und ihre Gäste mit jedem Besuch besser verstehen lernen. Gäste dürfen kommen. Gäste dürfen auch wieder gehen. Begrüßen wir die Angst wie einen Gast, begleiten wir sie gut und achtsam, dürfen wir sie auch wieder verabschieden. Das klingt einfach. Oder einfacher. Bleibt aber anstrengend. Denn nicht jeder Gast ist angenehm. Nicht zu jeder Zeit sind wir bereit Gäste zu empfangen. Auch Stammgäste sollten mit Bedacht gewählt sein. Öffnungszeiten gut gewählt. Dieses Recht steht uns zu. Doch es ist wichtig, dass wir solche Phasen als Chancen und nicht als Strafe betrachten. Ab und zu sollten wir Gäste begrüßen. Es sind diese Begegnungen, an denen wir wachsen können.
Rückschläge wird es geben. Darf es geben. Unsere Bemühungen sind dennoch niemals vergebens. Solange wir uns weiter bemühen, solange wird es auch angst-freie Momente geben. Selbst der schrecklichste Gast verlässt irgendwann unser Innerstes. Manchmal für immer. Zurück bleibt Platz für Gutes. Neues. Schönes.
Noch während ich an diesem Beitrag schrieb, las ich die Worte eines anderen Menschen. Ein Mensch, der sich seinen Ängsten stellt. Der spürt was es braucht und mutig genug ist, es einzuladen. Auch dieser Mensch kämpft. Für sich und nicht gegen die Angst. Solche Menschen schaffen es. Sie leben und führen die richtigen Kämpfe. Das macht mir Mut. Hoffnung statt Schwermut. Ein Licht in der Finsternis.
Wir schaffen es auch. Irgendwo, Irgendwann und Irgendwie.
Genießt euren Sonntag. Und wenn jemand den Mut hat, euch seine Ängste zu er-zählen, hört ihm zu. Nehmt ihn herzlich auf und behandelt ihn gut. Ihr wurdet gerade eingeladen.
Ruben