Verrückte Donnerstage
Es ist einer dieser merkwürdigen Sommertage. Einer der ersten in diesem Jahr. Es ist warm. Der Himmel ist himmelgrau. Die Sonne bleibt versteckt. Gedämpftes Licht. Morgengrau. Der Boden ist feucht. Die Luft riecht gut. Frisch. Alles scheint voll von neuer Energie.
Ich mag solche Tage. Sie helfen mir in den Tag zu kommen. Passen zu meiner morgendlichen Langsamkeit. Schrittweises Aufwachen. In den Körper fühlen. Nach und nach das System hochfahren. Den Morgen bewusst erleben. Einen frischen Kaffee zubereiten. Seinen Geruch genießen. Der erste Schluck in meinem Mund. Wirken lassen. Schmecken. Schwarzes Gold. Ein prickelndes Ziehen im Nacken. Dazu ein Stück Kuchen von gestern. Klebrig, süß. Vollgesogen mit Feuchtigkeit. Dadurch perfekt. Vor mir ein gutes Buch. Es geht um Dienstage. Passt auch zu ei-nem Donnerstag. Passt zu meinen Gedanken. Ein solches Buch kann man auch heute lesen.
Es ist ein besonderer Tag. Es ist der 11. Juni 2020. Ein Geburtstag. Ein guter Freund wird heute 46. Wir haben gemeinsam Abitur gemacht. Hatten die gleichen Leistungskurse. Hörten die gleiche Musik. Waren an den gleichen Orten. Hatten lange Haare, trugen Camel Boots. Ich erinnere mich an kurze Nächte und tiefe Ge-spräche. Laute Musik und schlechtes Tanzen. Ich vermisse ihn. Heute etwas mehr als sonst.
11. Juni 2015. Meine Oma Inge starb an diesem Tag. Das wirkt weit entfernt. Heute lebt es nah in mir. Es füllt mich aus. Ich war die Tage an ihrem ehemaligen Haus. Nah meiner alten Schule. An einem dieser Plätze, an denen ich gemacht wurde. Dort wohnen jetzt andere Menschen. Eine Familie mit Kindern. Unser Ahornbaum fehlt. Er wurde scheinbar entfernt. Obwohl ich lange suchte, konnte ich ihn nicht finden. Ich vermisse sie. Heute etwas mehr als sonst.
Der 11. Juni 1974. Weltmeisterjahr. Eine Tür öffnet sich. Ein wertvolles Leben beginnt.
Der 11. Juni 2015. Ein Jahr nach einem weiteren Weltmeisterjahr. Scheinbar kein besonderes Jahr. Eine Tür schließt sich. Ein wertvolles Leben endet. Dazwischen das Leben. Mal kurz, mal lang. Nichts mehr als eine Momentaufnahme im Angesicht der Ewigkeit. Ein Zwischenstopp auf der Schiene der Geschichte.
In meinem Buch umfasst die Ewigkeit 14 Dienstage. Das wirkt kurz. Ist es aber nicht. Viel eher wird es tief und intensiv gelebt. Es sind 14 Dienstage. 14 Begegnungen. 14 Gespräche. Das letzte Gespräch ist eine Verabschiedung. Eher eine Umarmung als ein Gespräch. Solche Umarmungen bräuchte es mehr. Ich umarme gerne.
Ich lege das Buch beiseite. Ich erinnere mich an gestern. An eine besondere Begegnung und an wertvolle Gespräche. Ein paar Sätze steigen in mir auf. Ich höre sie nicht das erste Mal. Es gab sie in der Vergangenheit und es gab sie mit verschiedenen Menschen. Manchmal erklingen sie einfach nur leise in mir. Lassen mich innehalten. Manchmal auch zweifeln. Gestern klangen sie ungefähr so:
„Vielleicht bin ich ja doch verrückt. Vielleicht sind ja alle anderen normal. Vielleicht müsste ich mich doch mehr anpassen und aufhören eigene Ideen zu haben. Viel-leicht haben alle anderen Recht und ich liege mit meinen Entscheidungen falsch.“
Es sind keine bekannten Sätze. Sie beschäftigen nicht alle. Sie sind bestimmten Menschen vorbehalten. Menschen, die ihre eigenen Wege gehen. Abseits der Hauptstraßen leben. Sich nicht an Normen orientieren. Abnormal wirken. Verrückte Dinge tun. Moderne Aluhutträger. Manchmal sogar Verschwörer. Normbrecher.
Normen. Ich muss an gestern denken. An unser Gespräch. An diesen Gedanken. Normalsein.
Was ist normal? Und warum scheint es so wichtig normal zu sein?
Normalität beruht auf Normen. Normen sind erst einmal nichts anderes als errechnete Werte. Es sind Mehrheiten. Häufigkeiten. Durchschnittsgrößen. Es gibt den Modus, den Median und das arithmetische Mittel. Statistik. Mit solchen Werten las-sen sich Dinge beschreiben. Ergebnisse erfassen. Prognosen erstellen. Solche Werte erschaffen Werte aber keine Wertigkeiten. Sie sind weder gut noch schlecht. Sie sind nicht einmal selten. Meist bilden sie einfach nur die Gruppe mit dem häufigsten Wert. Bilden eine Mehrheit. Nach Gauß den Scheitelpunkt seiner Kurve. Sie umfassen die sozialen Erwartungen und anerkannten Verhaltensweisen, welche vielfach vorkommen. Sie schaffen Gleichheit und erwecken ein Gefühl der Sicherheit. Menschliches Verhalten wirkt planbar. Handlungen werden vorhersehbar. Er-scheinen dadurch für andere normal. Geistige Kapazitäten lassen sich sparen. Wir müssen weniger überlegen, weniger hinterfragen. Normen erleichtern scheinbar das Leben.
Ich denke an gestern. An bestimmte Worte und Sätze. Abnormale Menschen leben abseits der Normen. Sie sind weder gut noch schlecht. Sie sind selten geworden. Seltene Dinge sind wertvoll, sind anders. Haben besondere Merkmale. Meist sind sie wertvolle Sammlerstücke im Leben normaler Menschen. Sammlerstücke sam-melt man. Manche stellt man in Vitrinen. Dort schaut man sie an. Lebt mit ihnen, ohne mit ihnen zu leben.
Normale Menschen verstehen abnormale Menschen nicht. Deshalb wirken ab-normale Menschen für normale Menschen verrückt. Das Verhalten abnormaler Menschen ist nicht planbar. Ihre Handlungen sind unvorhersehbar. Sie gleichen menschlichen Wundertüten. Es gibt keine passenden Schubladen. Dafür ein Leben voller Überraschungen. Voller Farben und gelebter Träume. Wertvolle Geschichten findet man nicht in den großen Schaufenstern. Auch nicht in Vitrinen. Auch ein solcher Gedanke klingt für viele Menschen verrückt.
Das Leben. Noch einmal denke ich an gestern. Eine Tür öffnet sich. Eine andere Tür schließt sich. Dazwischen das Leben. Ein winziger Moment im Angesicht der Ewigkeit. Dazwischen wir. Ich denke an die gestrigen Gespräche. An die gemein-samen Worte. An das kritische Hinterfragen des eigenen Handelns. An meine Ant-wort. Sie klang ungefähr so:
„Ich glaube es ist gut, dass du verrückt bist. Denn es bedeutet nichts Schlechtes. Es bedeutet lediglich, dass du in diesem Fall anders handelst, als die meisten Menschen handeln würden. Deshalb empfindest du es als verrückt und es mag auch so wirken. Bleib verrückt. Bleib abnormal. Denn es bedeutet nichts anderes, als dass du deinen Weg gehst. Jedesmal, wenn du dich so fühlst, hast du eine Entscheidung für dich getroffen und nicht eine Erwartung anderer erfüllt Das ist mutig und wenn es verrückt ist mutig zu sein, dann sei verrückt.“
Solche Gespräche sind geprägt von einfacher Schönheit und unerwarteter Freude. Verrückte Menschen finden Glück in Dingen, die den normalen Menschen verschlossen bleiben. Dies können ein gutes Gespräch, eine geteilte Zigarre, eine zarte Berührung oder der Geruch frischen Kaffees sein. Dinge, Erlebnisse, welche uns mit tiefster Zufriedenheit erfüllen. Wir können solche Momente nicht planen. Sie öffnen sich vor uns. Warten auf uns. Finden uns, wenn wir gefunden werden wollen.
Deshalb berate ich gerne, versuche langsam zu gehen und anderen verrückten Menschen zu begegnen. So wie gestern. Vielleicht auch heute. Vielleicht auch erst in ein paar Tagen wieder. Das ist die Schwierigkeit mit verrückten Menschen. Man weiß nie wann man ihnen begegnet.
Ruben