Gentlemen wir stehen am Abgrund -von kleinen und großen Entscheidungen
Ein außergewöhnlicher Patient saß 1982 im Wartezimmer des portugiesischen Neurologen Antonio Damasio. Er hieß Elliot, einige Monate zuvor war ihm ein Tumor aus dem Gehirn operiert worden, gleich hinter der Stirn. Der Tumor war klein, doch die Folgen waren tragisch: Aus dem tüchtigen Mann war ein chronischer Zögerer geworden. Er hing stundenlang am Autoradio, weil er sich nicht für einen Sender entscheiden konnte. Er konnte kein Wort schreiben, wenn ein schwarzer und ein blauer Stift zur Wahl standen. Elliot war alltagsuntauglich geworden. Den-ken konnte er noch bestens, sein Intelligenzquotient war unverändert gut. Nur sich entscheiden, das konnte er nicht mehr.
April 2020. Heute. Menschen können selbst entscheiden. Die Zahl unserer Wahlmöglichkeiten wächst täglich. Die Große Freiheit 2020. Wir sind frei. Dafür haben wir gekämpft. Entscheidungen. Es liegt an uns. Endlich unabhängig. Endlich frei.
April 2020. Heute. Menschen können selbst entscheiden. Sie haben „die Qual der Wahl“. Sie irren durch Wälder und sehen „vor lauter Wald die Bäume nicht“. Entscheidungen machen nicht frei. Sie machen uns Angst. Die Menge an Möglichkeiten erdrückt uns. Sie macht uns krank. Nicht wir haben die Macht über unsere Entscheidungen. Sie haben die Macht über uns. Eine Diktatur. Tyrannei.
Selbst entscheiden zu dürfen, bedeutet Verantwortung für das eigene Handeln zu leben. Wir haben dafür gekämpft. In der Pubertät. In der Geschichte. Bei uns zu-hause. Weltweit.
Aber was macht Entscheidungen so schwierig?
Eigentlich ist es ganz einfach. Trifft man eine Entscheidung wählt man aus der Menge an Möglichkeiten eine einzige Möglichkeit aus. Gleichzeitig entscheidet man sich gegen alle anderen Möglichkeiten. Lässt diese los. Das scheint schwer. Entscheidungen sind beides: Gewinn und Verlust. Sie schaffen eine Klarheit. Wähle ich eine Möglichkeit aus, bestimmt diese mein Handeln. Entscheide ich mich für München, fahre ich nicht nach Hamburg. Ich kann ein Angebot annehmen, oder es ablehnen. Mieten oder Kaufen. Blau oder Rot. Entweder-oder. Entscheidungen geben uns Sicherheit. Sie vereinfachen unserer Welt. Ermöglichen es miteinander zu leben und zu handeln.
Selbst entscheiden zu dürfen, bedeutet aber auch Verantwortung für die eigenen Fehler zu übernehmen. Konsequenzen zu tragen. Ich entscheide mich für eine der Möglichkeiten, ohne deren Ergebnis zu kennen. Das wirkt riskant. Was passiert, wenn ich die falsche Entscheidung treffe? Nicht jede Entscheidung lässt sich zurücknehmen. Irgendwie auch spannend.
Das ist der Preis der Freiheit. Freiheit wird uns nicht geschenkt. Erfüllt zu leben, braucht Mut. Gute Entscheidungen zu treffen, braucht Zeit und Balance.
Wissenschaftler wissen: Entscheidungen beruhen nicht ausschließlich auf sachlichen Überlegungen. Entscheidungen werden nur selten rational getroffen. Der Kopf trifft keine Entscheidungen. Das ist ein Mythos. Die meisten Entscheidungen treffen wir intuitiv. Sie beruhen auf unseren Erfahrungen und Emotionen. Geht es uns gut, sind wir frei von Angst, fällt es uns leicht Entscheidungen zu treffen. Dann müssen wir nicht noch einmal „eine Nacht darüber schlafen“. Fühlen wir Angst und Unsicherheit fällt es uns schwer „vernünftig zu sein“. Hier benötigen wir Zeit. Durchdenken die Option. Entscheiden uns oft aufgrund des zeitlichen Drucks. Oder entscheiden uns gegen eine Entscheidung. Denn: Keine Entscheidung zu treffen ist auch eine Entscheidung.
Den Kopf auszuschalten und nur auf das Bauchgefühl zu hören, wirkt verlockend. Es wäre falsch. Auf den Bauch allein, ist ebenfalls kein Verlass.
Es braucht Balance aus beiden Teilen. Kopf und Bauch müssen miteinander reden. Einer allein kann keine großen Entscheidungen treffen. Es braucht beide. Und es braucht die richtige Perspektive. Gute Entscheidungen beziehen sich auf das „Jetzt“. Schlechte Entscheidungen auf die „Zukunft“.
April 2020. Der Virus und seine möglichen Folgen erdrücken uns. Nicht wir haben die Macht über unsere Entscheidungen. Ein Virus hat die Macht über uns. Eine Diktatur. Tyrannei.
Wir haben Angst. Hysterie wird gepusht. Uns werden Bilder gezeigt. Menschen sterben darauf. Die Zukunft ist ungewiss. Niemand kann sagen was passieren wird. Aber es wird schrecklich werden. Negative Emotionen überwiegen. Ein ängstlicher Bauch regiert unser Verhalten. Es fehlt an Balance. Mögliche Entscheidungen er-drücken uns. Die Angst vor einem tödlichen Fehler wächst.
Der Preis der Freiheit.
Nicht wir haben die Macht über unsere Entscheidungen. Sie haben die Macht über uns. Eine Diktatur. Tyrannei. Sie bestimmen unser Leben. Dankbar geben wir sie ab. Lassen andere über uns entscheiden. Geben ihnen diese Macht.
Wir haben dafür gekämpft. Tage, Wochen, Jahre und Jahrhunderte. Freiheit hat ihren Preis. Entscheidungen auch.
Jetzt lassen wir andere für uns entscheiden. So wie früher auch. Willkürlich. Regeln ohne Begründung. Neue Grenzen und merkwürdige Strafen werden akzeptiert. Täglich gibt es neue Vorgaben und neue Konsequenzen.
Wir wollten selbständig sein. Frei. Ständig werden wir an unsere Fehler erinnert. Damals vor etwa hundert Jahren. Wie schnell wir doch vergessen.
Andere haben wieder Macht über uns.
Auch eine Entscheidung.
Entscheidungen kann man ändern.
Ruben