Langsame Zeiten

Es ist unser erster gemeinsamer Kurs, im Herbst 1995. Der erste Termin findet in einem Ausweichraum statt. Der eigentliche Seminarraum ist durch einen anderen Kurs belegt. Eine Überschneidung. Fehlende Kommunikation. Abgehetzt und außer Atem betrete ich den Raum. Schnaufend. Auch andere Studenten schnaufen noch. Wirken ebenso fehl am Platz wie ich es selbst empfinde. Vermutlich ist dies das geheime Zeichen, das uns Erstsemester miteinander verbindet. Es sind etwa sechzig andere Studenten mit mir im Raum. Ungleichmäßig verteilt, sitzen sie auf unterschiedlichen Stühlen an zahlreichen Tischen. Die meisten tragen wie ich eine Jeans. Dazu ein Hemd oder Shirt. Chucks und bunte Socken. Manche DocMartens. Lange Haare. Die Uniform der Sozialwissenschaften. Viele sortieren ihre Unterlagen oder studieren das aktuelle Vorlesungsverzeichnis. Manche wirken nervös. Einige eher entspannt. Die Entspannten scheinen zu wissen was gleich passieren wird. Ich suche mir einen Platz. Möglichst weit hinten. In einem toten Winkel. Warte bis es beginnt.

„Ruben Kühner“ sagte Andreas, der die Anwesenheitsliste verliest. Andreas war damals noch Prof. Dr. Fröhlich. Zaghaft hebe ich die Hand. Ein zweites Mal erklingt mein Name. Alle schauen sich um. Ich hebe nun deutlicher die Hand. Einen großartigen toten Winkel habe ich mir ausgesucht. Fröhlich nickt fröhlich. Er lächelt mir zu. Der Moment verblasst. Meine Unsicherheit auch. Sein Lächeln bleibt. Auch später. All die Jahre begleitet es mich. Sein Lächeln ist echt. Es ist warm. Oft erwärmend. Wenn Andreas lächelt, werden große Probleme klein und schwere Schwierigkeiten leicht. Ein Lächeln, dass Herzen schweben lässt und Wachstum ermöglicht.

So fing es an. Weitere Veranstaltungen folgten. Dieser eine besondere Morgen blieb. An diesem Morgen sprachen wir über Erkrankungen und Behinderungen. Wir sprachen über die wissenschaftliche Bedeutung dieser beiden Begriffe. Über ihre Ähnlichkeiten, ihre Verbindungen und ihre Grenzen. Wir sprachen über kategorisierende Schubladen und unzureichende Modelle. Am Ende sprachen wir über uns. Gute Lehrer lehren so. Sie lehren, ohne uns zu belehren. Gute Lehrer bringen uns an einen Punkt, an dem wir wachsen können. Andreas war ein herausragender Lehrer.

Wir sprachen über Erkrankungen und Behinderungen in der Familie und im Freundeskreis. Wir sprachen über uns nahestehende Menschen. Menschen, die in keine Definition und in kein Modell passen wollten. Ich hörte von Lisa und hörte von Ben. Beides Menschen. Beide gezeichnet von einer schweren Erkrankung. Beide dadurch behindert. Beeinträchtigt auf Lebenszeit. Leicht einzustufen. Lisa mit ihrem genetischen Defekt. Ben mit HIV. Beide körperbehindert. Beide immer noch Menschen. An diesen Punkt führte uns Andreas. Voller Vertrauen in uns naive Erstsemester überließ er uns die Entscheidung. Was wollten wir sehen? Den Menschen? Oder seine Erkrankung? Was war wichtiger?

Ich hatte bis dahin wenig Erfahrung mit Erkrankungen gemacht. Meine Basketballkarriere hatte ich wenige Wochen vorher beenden müssen. Eine angeborene Fehlstellung der Hüfte. Arthrose. Ich war 21. Die Ärzte fragten nicht. Ihre Empfehlungen beendeten meine Basketballzeit. Sie sprachen von einer künstlichen Hüfte. Einer schweren Operation. Ich hatte gerade eine Meisterschaft gewonnen. Chancen auf ein College-Stipendium. Wollte ich nicht irgendwann nur noch humpeln oder im Rollstuhl sitzen, musste ich aufhören. Weiter zu spielen wäre verrückt gewesen. Aufzuhören klang vernünftig. Also hörte ich auf. Anstatt am College der University of Maine, saß ich nun hier in diesem Ausweichraum. Anstatt über die nächste Trainingseinheit, sprach ich heute über mögliche Erkrankungen.

Erkrankungen gibt es auch in meiner Familie. Seit Generationen. Bei uns ist es Krebs. Meine Tante starb daran. Später auch weitere Familienmitglieder. Wir sind eine Krebsfamilie. Ärzte nennen uns so. Es bedeutet, dass wir eine erhöhte genetische Disposition haben, an Krebs zu erkranken. Mehr bedeutet es nicht. Keiner aus meiner Familie wird sicher an Krebs erkranken. Keiner wird wissen, ob er daran sterben wird. Trotzdem wirken die Ärzte stets bedacht. Warnend. Manchmal übervorsichtig. Vorsorgeuntersuchungen sollen wir regelmäßig machen. Auch, wenn wir uns überhaupt nicht krank fühlten. Sich gesund zu fühlen, bedeutet nicht gesund zu sein.

Krebsfamilien bekommen selten Herzerkrankungen. Herzerkrankungen gibt es in Herzfamilien. Herzfamilien bekommen wiederum nur selten Krebserkrankungen. Jede Familie hat ihre eigene Haupterkrankung. Die Ärzte nennen das Glück. Zwitter-Familien, in denen es Krebs- und Herzerkrankungen gibt, scheint es nur selten zu geben. Dafür gibt es für jede Erkrankung eine Schublade. Ärzte nennen das eine Kategorie. Kategorien haben wenig mit Menschen zu tun. Dafür mit Zahlen und Symptomen.

Das bekannteste Zahlensystem ist der ICD-10. Er definiert die genaue Erkrankung mit ihren spezifischen Symptomen. Das ist wichtig, denn jede Erkrankung kann unterschiedliche Symptome entwickeln. Keine Erkrankung erscheint gleich. Ihr Verlauf nur selten sicher. Erkrankungen scheinen schwierig. Später sollte ich erfahren, dass es scheinbar 187 Formen der Schizophrenie gibt. Das Erkrankungen wie Autismus, frühkindliche Schizophrenie oder ADHS bei Kindern und Jugendlichen häufig die gleichen Symptome haben. Deshalb brauchen Ärzte Zeit, um die passende Differentialdiagnose zu finden. Machen sie einen Fehler können neue Symptome auftreten. Die Krankheit kann sich verschlechtern. Weitere Erkrankungen können entstehen. Dann gibt es weitere Medikamente und Behandlungen. Manchmal auch Medikamente gegen die Medikamente, die man gerade nimmt. Solche Medikamente werden gebraucht damit die Medikamente, die einen gesund machen sollen, nicht krank machen.

Ich sitze wieder im Ausweichraum. Viele Dinge wusste ich damals noch nicht. Andere wussten mehr. Unsere Gesellschaft sieht kranke Menschen defizitär. Kriterien der Leistung entscheiden darüber, ob wir als gesund oder krank eingestuft werden. Hinter Leistungskriterien stecken häufig wirtschaftliche Aspekte. Menschliche Aspekte findet man dort nur selten. Es sind Zahlen, die über Menschlichkeit entscheiden. Ich hoffe, dass Menschen über Menschlichkeit entscheiden. Diese vielleicht auch leben.

Ich höre den anderen zu. Höre was sie berichten. Höre ihre Geschichten. Lisa ist eine Frau mit Down-Syndrom. Trisomie 21. Für ihre Schwester ist Lisa ein wichtiger Mensch. Für die Ärzte ist Lisa ein „Downie“. Auch der Bruder von Ben erzählt eine solche Geschichte. Er erzählt davon wie sein Bruder auf seine Erkrankung reduziert wird. Wie Menschen ängstlich reagieren. Ihn ablehnen. Behandlungen verweigern. Bens Bruder ist ärgerlich. Lisas Schwester auch. Beide sehen ihre wertvollen Menschen.  Andere sehen diese Menschen scheinbar nicht.

Es ist leise im Ausweichraum. Ich fremdschäme mich. Bin betroffen. Ich bin nicht allein. Keiner spricht. Andreas schaut uns an. Er legt eine Folie auf. Eine letzte für heute. Handschriftlich hat er darauf etwas notiert.

 

„Ben ist ein Mensch. Er ist HIV-positiv. HIV ist eine Erkrankung. HIV ist kein Mensch.“

„Lisa ist ein Mensch. Sie hat Trisomie 21. Trisomie 21 ist eine Behinderung. Trisomie 21 ist kein Mensch.“

„Es sind wir, die entscheiden ob wir einen Menschen auf die Defizite seiner Erkrankung reduzieren. Es ist nicht die Erkrankung, die einen Menschen defizitär werden lässt.“

 

Heute Abend muss ich an diesen Moment denken. An meinen Lehrmeister. An das tiefe Zen seiner Worte. Sie haben mich Folgendes gelehrt:

Eine Erkrankung ist eine Sache, die es uns erlaubt traurig zu sein. Wir dürfen traurig sein. Eine Erkrankung erlaubt es uns nicht, unglücklich zu leben. Viele Menschen leben unglücklich. Selbst, wenn sie nicht krank sind. Sie sehen ausschließlich ihren Verlust. Sie sehen keine Möglichkeiten. Dies ist ein Problem unserer Gesellschaft. Unsere Kultur erlaubt es uns nur bedingt glücklich und zufrieden mit uns zu sein. Wir leben in ständiger Angst vor einer möglichen Erkrankung. Werden regelmäßig daran erinnert und aufgefordert etwas gegen Erkrankungen zu unternehmen. Wir betrieben Vorsorge für etwas, dass vielleicht eintreten könnte. Dies schafft merkwürdige Situationen. Schafft Verwirrung. Gesunde Menschen scheinen enttäuscht. Sind verärgert, wenn der Weg zum Arzt umsonst war. Fordern scheinbar eine mögliche Erkrankung ein.

Unsere Kultur scheint nicht dafür geeignet, dass wir uns mit uns selbst wohl fühlen. Zufrieden sind. Keine Ängste haben und uns über unser Leben freuen. Lebensangst ersetzt Lebensfreude. Wir leben und lehren die falschen Dinge. Deshalb braucht es innere Stärke. Wenn eine Gesellschaft nach falschen kulturellen Werten lebt, kann ich sie verlassen. Ich muss mich ihr nicht anpassen. Ich kann mir eine eigene Kultur aufbauen. Mein eigenes System. Viele Menschen können das nicht. Sie leben unglücklich. Auch ohne Erkrankung. Doch es gibt auch andere Menschen. Menschen, die durch degenerative Erkrankungen viele Fähigkeiten verloren hatten. Die wieder Hilfe brauchten. Nicht mehr selbständig waren. Oft beobachtete ich diese Menschen dabei, wie sie Dinge in ihrem eigenen Schneckentempo machten. Sich mit Aufgaben mühten, die sie früher schnell und ohne jede Hilfe ausüben konnten. Dennoch wirkten sie so heiter und gelassen.

Seit diesem Moment im Ausweichraum traf ich viele Menschen mit einer schweren Erkrankung. Ich traf weitere Lisas und weitere Bens. Obwohl sie vieles verloren hatten, lebten viele von ihnen glücklich. Glücklich, weil liebevolle, fürsorgliche Menschen sie umgaben. Sie hatten gelernt mit der Erkrankung und ihren Folgen zu leben. Einen möglichen Tod zu akzeptieren. Sie hatten gelernt zu sterben. Deshalb konnten sie angstfrei leben.

Sie lebten in langsamen Zeiten.

Ruben